Ein ganz normaler Montag. In Peking. Einer Stadt mit gut 20 Millionen Einwohnern. Man will von A nach B, wie viele andere auch. Man fährt nicht selbst, sondern lässt fahren. Nur das macht den Aufenthalt auf der fünfspurigen Ausfallstraße überhaupt erträglich. Am Steuer sitzt Edward, die weißen Stoffhandschuhe an den Händen und den stoischen Blick auf die Straße gerichtet.
China ist ein Limousinen-Land. Nicht nur in dem Sinn, dass dort besonders viele Autos dieser Bauform verkauft werden, man lässt vor allem auch Fahren. Der Weg durch die Stadt kann schnell – blödes Wort – mal zwei Stunden dauern, da muss man die Zeit sinnvoll nutzen. Oder sich zumindest nicht ärgern. Urdeutsche Vorfahrtsregeln sind dem Chinesen fremd. Es wird gedrängelt und gehupt, wer nachgibt, hat verloren – zumindest eine Wagenlänge. Edward kennt das, er ist schon vor zwanzig Jahren hier Taxi gefahren. Dass seine Landsleute ein besonderes Verhältnis zum Straßenverkehr haben, ist ihm klar, deswegen muss er grinsen, wenn wir immer wieder erstaunt auf Fußgänger, Elektro-Rikschas und vor allem unzählige elektrische Roller zeigen, die sich scheinbar selbstmörderisch in unüberschaubare Kreuzungen drängeln und trotz nicht vorhandener Knautschzonen offensichtlich im Glauben an diverse Schutzgötter durch das chaotische Sammelsurium aus Blech und Plastik wuseln. Es passiert, gemessen an den vorherrschenden Verkehrsverhältnissen ausgesprochen wenig. Ein- oder zweimal sehen wir diskutierende Autofahrer am Straßenrand, kleinere Blessuren an einem steinalten Taxi deuten offensichtlich von ungewolltem Kontakt. Wer schaut, verliert, das scheint hier das Motto zu sein.
Wir lümmeln uns mit ungewohnt viel Beinfreiheit im Fond einer S-Klasse. AMG natürlich. Die 500+ PS sind für den Verkehr in Peking völlig überdimensioniert, die weit nach hinten neigbaren Sitze hingegen sind eine Wohltat. Durch das Glasdach genießen wir den durch die Hochhäuser gerahmten Blick in den leider völlig versmogten Himmel über der Metropole. Eine App auf dem Smartphone kündet von Luftqualitätswerten um 200 und ein Gesicht mit Atemmaske symbolisiert die empfohlenen Schutzmaßnahmen. Was die Rollerfahrer und Fußgänger rund um das in Kriechfahrt befindliche Geschoss aus Affalterbach beherzigen, können wir uns im Inneren sparen – ein Grund mehr, sich in den Stau zu stellen.
Wer es sich leisten kann, befördert die Familie, gute Freunde und Geschäftspartner mit einer Limousine in Langversion
In solchen Situationen begreift man, warum hier eine so ausgeprägte Chauffeurskultur existiert. Klar, man könnte auch Taxi fahren, aber die klapprigen Stufenhecklimousinen wirken nicht nur billig, sie sind es. Wer es sich leisten kann, befördert sich selbst, die Familie, gute Freunde oder ganz besonders eben Geschäftspartner mit einer Limousine in Langversion. Das Ganze ist ein riesiger Markt mit skurrilen Auswüchsen. Selbst kompakte SUVs gibt es hier in Langversionen, das Gros des Marktes sind aber klassische Stufenheckautos. Genau so eines stellt Mercedes zur Auto China 2016 vor, die um exakt 14 Zentimeter verlängerte E-Klasse. Klingt unspektakulär? Ist es nicht. Die 14 Zentimeter kommen dem Radstand zugute, also dem Raum zwischen Vorder- und Hinterachse und somit eben genau den Passagieren in der zweiten Reihe, da wo die wertvollen Menschen sitzen. Durch üppig dimensionierte Türen steigt man hier ein, lässt sich nach hinten fallen und wälzt sich wohlig im bequemen Gestühl.
Klappt man die Mittelarmlehne hoch, könnte hier ein weiterer Passagier sitzen, doch das dürfte eher die Ausnahme sein. Stattdessen ist die Armablage ein technisches Multitalent. Ein integrierter Touchscreen – der erste überhaupt in einem Mercedes – bietet Zugriff auf Funktionen des Comand-Systems, wer zahlt, bestimmt schließlich auch das Programm. Ein USB-Anschluss und ein Platz zum induktiven laden von Smartphones halten selbige energietechnisch bei Laune und optional kühlende Cupholder sorgen für maximalen Reisekomfort.
Auch Edward hätte es komfortabel, denn, wenn der Verkehr es denn zuließe, könnte er dank Drive Pilot die Lenkarbeit an den Mercedes delegieren, bis hinauf zu beeindruckenden 210 km/h könnte er immer mal wieder die Hände vom Lenkrad nehmen. Könnte. Im Stau von Peking ist eher Kriechfahrt angesagt und wer sich an eigentlich notwendige Sicherheitsabstände hält, verliert seine Position im zäh dahinschleichenden Verkehr. Am Ziel könnte er dann per Remote Parking App den überlangen E von außen via Smartphone in die Lücke bugsieren. Wenn es den eine Lücke gibt. In Peking scheint aber eher das Motto zu sein: „In Bewegung bleiben, auch wenn sie langsam ist“. Und so vollführt die Blechlawine ein nicht enden wollendes Tai Chi auf dem Asphalt von Peking – Schattenboxen im Straßenverkehr.
Mercedes betreibt seit geraumer Zeit auch Entwicklung in China, 2014 wurde das neue R&D-Zentrum eingeweiht. Das macht Sinn, denn China ist mittlerweile nicht nur der größte Absatzmarkt, sondern er hat auch spezielle Anforderungen. Die offensichtlichste ist natürlich die Sprache. Die Adresseingabe beispielsweise kann bei den neuesten Comand-Varianten auf drei unterschiedliche Arten erfolgen, die schnellste ist die, bei der die Schriftzeichen direkt auf dem Touchpad in der Mittelkonsole „gezeichnet“ werden. Eine Auswahl zeigt dann die möglichen Zeichen, sodass eine Adresseingabe in weniger als einer Minute erfolgen kann. Klingt langsam? Nun, mit den anderen Methoden sind dafür zwei oder gar drei Minuten fällig. Überhaupt navigiert man in China eher weniger anhand von Adressen, sondern orientiert sich viel mehr an Sonderzielen. Deswegen sind im System beeindruckende 1,5 Milliarden POIs, also Points-of-Interest hinterlegt. Und da Facebook, Google & Co. in China keine Rolle spielen, implementieren die Entwickler hier Dienste wie Baidu und vor allem das alles beherrschende WeChat. Mit dieser chinesischen Alternative zu WhatsApp und Messenger lassen sich aber viel mehr Dienste realisieren, per Chat kann man sogar seinem Mercedes das nächste Navigationsziel mitteilen. Da werden wir ein wenig neidisch
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